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Lutz Musner (1954-2025). Ein Nachruf von Wolfgang Maderthaner

Noch Ende März dieses Jahres hat er mir, so wie er dies häufig zu tun pflegte, einen jener herausragenden, von ihm nicht zu Unrecht als Paradigma eines ganz bestimmten Denkstils klassifizierten Debattenbeiträge zugesandt: Perry Andersons Anmerkungen zur formativen Kraft des Ideellen im historischen Prozess, Idées Forces aus der New Left Review vom Februar 2025. Nicht umsonst und nicht zufällig hat sich Lutz Musner mit den Überlegungen des langjährigen Herausgebers eines der wohl wichtigsten linksgerichteten Wissenschaftsjournale der Gegenwart in hohem Maße identifizieren können. Denn dies war stets das zentrale, das bewegende Motiv, die anleitende und vorwärtstreibende Kraft im Denken und Schaffen des Lutz Musner – das dominante Kulturelle in seiner Rückbindung an das Soziale zu erklären, und das prägende Soziale in seiner notwendigen Korrespondenz zum Kulturellen zu erfassen, stets unter dem Aspekt gegebener (und konsequenterweise zu verändernder) gesellschaftlicher Machtverhältnisse. Das Sein bestimmt das Bewusstsein, zweifellos, doch ist gerade dieses sozial determinierte Bewusstsein aus sich heraus eine zentrale, komplex konzipierte Ressource permanenten und notwendigen Wandels. In dieser (und nicht nur in dieser) Hinsicht war das Denken Musners, das sich in vielen seiner Ausprägungen einem lebenslangen, intensiven Studium Kants und Hegels verdankte, „marxistisch“ im Sinne eines Victor Adler, der von „seiner“ soeben neugegründeten Sozialdemokratie als einer im eigentlichen Sinne revolutionären Kraft ausgegangen war: „Unser nächstes Ziel ist die Revolutionierung der Gehirne.“

Der eigenwillige Osttiroler Lutz ist niemals den einfachen Weg gegangen. An der Uni Innsbruck schloss er sich in den 70er-Jahren dem hier nicht gerade mehrheits-, aber durchaus artikulationsfähigen VSStÖ an. Nach Abschluss seines geisteswissenschaftlichen Studiums folgte ein Wissenschaftsstipendium an der University of Chicago, zu dieser Zeit nicht nur ein Mekka der neoliberalen ökonomischen Gegenreformation, sondern durchaus auch der kritischen, gesellschaftsanalytischen Philosophie. Die ebendort gewonnenen Erfahrungen und Erkenntnisse werden ihn ein Leben lang nicht mehr loslassen, einen Brotberuf aber findet er nach seiner Rückkehr im Wiener Wissenschaftsministerium. Vor dem Hintergrund seiner so überaus bestimmenden Auslandserfahrung administriert Musner die Einführung der wegweisenden Erasmus-Stipendien, nicht ohne ein die bürokratischen Aktenläufe ironisch-präzise charakterisierendes, mittlerweile legendär gewordenes Diktum zu prägen: „Vor Hintertreibung in Verstoß geraten.“ Als sich die Gelegenheit ergab, ein neu eingerichtetes Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften in geschäftsführender Position aufzubauen, musste er nicht lange überlegen. Das IFK entwickelte sich unter seiner tatkräftigen, wenn auch in den meisten Fällen mehr indirekt ausgeübten Leitung zu einem führenden Wissenschaftsinstitut dieser Stadt.

Mitte der 1990er Jahre organisierte der VGA im Wiener Ringturm eine großangelegte Konferenz, die in einmaliger Weise die internationale Elite der Kulturforschung versammelte und an der sich auch Musner führend beteiligte; nicht in offizieller Funktion, sondern als gleichsam „Privatgelehrter“. Unsere langjährige gemeinsame Forschungs- und Publikationstätigkeit nimmt hier ihren Ausgangspunkt. Noch in der Pandemiezeit, als Lutz längst nicht mehr publizistisch wirkte, haben wir in ausgedehnten Stadtspaziergängen jedes einzelne Kapitel, jede These, jedes empirische Forschungsergebnis meines 2023 bei Campus erschienenen Bandes Zeitenbrüche. Sozialrevolutionäre Aufstände in habsburgischen Landen förmlich durchdekliniert. In gemeinsamer Anstrengung verfasst wurden u.a. Die Anarchie der Vorstadt. Das andere Wien um 1900 (Campus, Frankfurt/New York 2000), das in der amerikanischen Übersetzung als Unruly Masses. The Other Face of Fin de Siècle Vienna bei Berghahn (New York/Oxford) 2008 erschienen ist; ferner unsere Abrechnung mit einer in reinen Überbauphänomenen aufgehenden und ihre soziale Relevanz gänzlich einbüßenden Kulturwissenschaft L'autoliquidation de la raison. Les sciences de la culture et la crise du social (Paris 2010); schließlich direkt aus dem Wiener Moderne-Projekt hervorgehende Studien zur Logik der Massen am Beispiel des Justizpalastbrandes vom Juli 1927 sowie zum fordistischen Wien der Jahre 1950-1970 (Turia&Kant, 2002 und 2004).

Aus dem IFK hat sich Lutz, zunehmend enttäuscht und in seiner spezifisch persönlichen Wahrnehmung auch marginalisiert, noch vor der Zeit zurückgezogen, ein Zwischenspiel im VGA verlief für beide Seiten wenig zufriedenstellend. Im Ruhestand hat er sich an den quasi offiziellen Wissenschaftsdebatten nicht mehr beteiligt, gleichwohl die jeweiligen Trends und Turns im Wortsinn „durchleuchtet“, messerscharf und beizeiten bissig ironisch-satirisch kommentiert, substanzielle Beiträge hingegen in ihrer Relevanz gewürdigt und an die minder belesene Kollegenschaft (so etwa an mich) zur gefälligen Reflexion weitergeleitet. Lutz Musner war das, was man gemeinhin als einen „Schwierigen“ zu bezeichnen gewohnt ist. Vereinbarte Termine konnte er oftmals wenige Stunden oder Minuten davor absagen, meist aus, wie es scheinen wollte, wenig überzeugenden Gründen. Kam er aber der lästigen „Verpflichtung“ einmal nach, dann entwickelte sich das Gespräch mit ihm zum spannenden, instruktiven, inspirierenden, bereichernden Gedanken- und Ideenaustausch. Lutz Musner war ein über die Maßen gebildeter, analysebegabter Intellektueller, zum Denken gleichermaßen wie zur Formulierung begabt, die Konfrontation ebenso wie den etwaigen Konsens nicht scheuend. Vor allem aber war er mein und einer kleinen, handverlesenen Gruppe Freund. Wir trauern.

Wien, Mai 2025